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- Otto Weininger -
von
Friedrich Georg Jünger


Scheidewege
Vierteljahresschrift für skeptisches Denken

Herausgegeben von
Friedrich Georg Jünger und Max Himmelheber

1972 Jahrgang 2 Heft 2
Vittorio Klostermann · Frankfurt am Main

Sonderdruck


    Einen langen Teil seines kurzen Lebens hat Weininger über Büchern verbracht.  Nicht nur der Umfang dieser Lektüre ist erstaunlich, nicht nur seine frühe Fähigkeit zur Abstraktion, die von allem Anfang an an das Wort, den Satz, die Sprache gebunden ist.  Seine Frühreife ist etwas Umfassenderes und bezieht sich wie alles Reifen auf das Pflücken und Ernten, kündet daher einen Abschluß, ein frühes Ende an.  Reife ist ohne sinnliche Erfahrung nicht denkbar.  Woher kommt aber bei einem noch nicht Zwanzigjährigen nicht nur die Erfahrung, sondern auch die durchdringende, kombinatorische Einsicht?   Sie kann nicht allein auf Erfahrung beruhen; sie hat das Divinatorische des transzendenten Sehens, das ins Alltägliche neues Licht bringt, in das Gewohnte und Gewöhnliche, an dem der routinierte Blick vorbeigeht.

    Wach geworden ist Weininger über den Schriften Kants; sie sind der Hauptfund, den er im Bereiche des Denkens gemacht hat, und setzen sein eigenes Denken in Bewegung.  Ohne den Rückgriff auf Kant bleibt es unverständlich.  Es ist daher zu zeigen, worin er Kant folgt und worin er sich von ihm trennt.

    Transzendentalphilosophie im kantischen Sinne ist reine, spekulative Vernunft.  Sie ist Metaphysik, und als solche schließt sie die Transzendenz aus.  Transzendental und transzendent, sagt Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“, sind nicht einerlei.  Sätze, welche die Erfahrung wegnehmen oder überschreiten, und den Vernunftgebrauch, der mit diesem Überschreiten beschäftigt ist, nennt er transzendent.  Transzendental ist alle Erkenntnis, die mit Begriffen a priori von Gegenständen beschäftigt ist, nicht mit dem empirischen Gegenstand, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen.  Erscheinungen, nicht Dinge an sich, sind uns gegeben; ihnen kommt nur eine empirische Realität zu.

    Worin gipfelt diese Metaphysik?  Sie gipfelt in dem, was Kant die synthetische Einheit der Apperzeption nennt; sie gilt ihm als der höchste Punkt des Verstandesgebrauchs, an dem alle Logik und Philosophie hängt.  Sie ist, wie er selbst sagt, der Verstand selbst.  Daß ohne Identität dieser obersten Synthesis die Identität des Selbstbewußtseins nicht gedacht werden kann, sagt er auch, und Weininger folgt ihm darin.  A priori bin ich mir des synthetischen Selbst und seiner Synthesis bewußt, woraus folgt, daß alles Mannigfaltige, Vorgestellte, Angeschaute meine Vorstellung ist und eins ausmacht.  Insgesamt ist die Kritik das mühevolle Unternehmen, die a priori gegebene Synthesis zu analysieren und wieder zusammenzusetzen.

    Der Identitätssatz ist der oberste Satz der Logik.  Er ist, wie Weininger sagt, „entweder alles oder nichts“.  Er kann von niemandem geleugnet werden, da seine Negierung ihn voraussetzt.  Und er hängt weder von der Existenz von Objekten ab, noch sagt er über ihre Existenz etwas aus.  Er ist evident, und seine Evidenz offenbart die Existenz des Subjekts; er wird daher von Weininger als identisch aufgefaßt mit dem Satze: ich bin.  Das Dasein kann ohne Identität nicht gedacht werden.

    Daß dem so ist, ist nicht zu bestreiten.  Was heißt es aber, wenn Weininger sagt, daß die Norm alles Denkens nicht im Denken liege, daß der Identitätssatz dem Denken nichts hinzufüge, sondern den Reichtum alles Denkens begründe? Woher kommt ihm diese gründende Fähigkeit? Als logischer Satz, der aller Logik, allem Verstandesgebrauch vorausgeht, bleibt der Identitätssatz ein leerer, analytischer Satz.  Identität als Einssein mit sich selbst, als Sichselbstgleichheit, als identisches Selbst kann nicht reine Verstandesbestimmung bleiben.  Identität, nicht als logische Bestimmung, sondern als Dasein, Existenz, ist kein nunc stans, sondern Kontinuum, das Nichtidentisches, Mannigfaltiges einschließt.  Die Identität ist ein Werden, ist in Bewegung.

    Bleibt Weininger, indem er Kant interpretiert, transzendentaler Idealist?  In dem Nachlaßbuch „Über die letzten Dinge“ steht ein Kapitel, das „Metaphysik“ betitelt ist.  Indessen wollte Weininger keinen Beitrag zur Metaphysik geben.  Er wollte neben die transzendentale Methode eine andere Methode als gleichberechtigt setzen, die einer universalen Symbolik, welche die Bedeutung alles einzelnen im ganzen untersucht.  Darauf ist zurückzukommenEr gibt an, worin diese Symbolik vom idealistischen System Kants abweicht.  Kants Lehre, daß auch die psychischen Phänomene Erscheinungen seien, ganz so wie die physischen, wird ihm zweifelhaft.  Er macht einen Unterschied zwischen Phänomen und Erscheinung und erkennt dem psychischen Phänomen eine Realität zu, die nicht mehr idealistisch gedacht ist.  Daß die Gegenstände der Außenwelt Erscheinungen, nicht Dinge an sich sind, bleibt ihm gewiß.  Aber er sieht „die sinnliche Erscheinung“ als Symbol einer „psychischen Realität“ an, und zwar einer solchen, welche „Erfahrung im Menschen“ ist. Obwohl er sich außerstande sieht, die „Grundvoraussetzungen“ seines Unternehmens darzulegen, ist er überzeugt, daß die psychischen Phänomene eine größere Realität besitzen.

    Solche Erwägungen bestimmen seine Fassung des Zeitproblems.  Er gibt die Apriorität des kantischen Zeitbegriffes auf, weil sie ohne Bedeutung für die Dinge an sich und damit für Sinn und Richtung der Zeit sei.  Er verneint die Linearität der Zeit, weil man auf einer Geraden hin und her spazieren könne, also eine rückläufige Bewegung auf ihr möglich sei.  Die Zeit, sagt er, ist „einsinnig“.  Einsinnigkeit der Zeit ist Nicht-Umkehrbarkeit, Nie-Wiederkehren.  Reale Gegenwart kann zwar reale Vergangenheit, nie aber reale Zukunft werden, wohl aber ideale Gegenwart reale Zukunft.  Das Quantum der Vergangenheit wird immer größer, das der Zukunft immer kleiner.  Ist dem so?  Ist dieses quantitative Abmessen auf das Dasein bezogen, auf sein eigenes, so könnte darin eine Vorahnung seines frühen Endes liegen.  Der kantische Zeitbegriff verliert für ihn den Sinn, weil er keinen Zusammenhang mit dem intelligiblen, ethischen Grunde der Welt hat.  Die Einsinnigkeit der Zeit muß einen solchen Grund haben.

    So wird das Zeitproblem für ihn zum ethischen Problem.  Er macht das an Beispielen deutlich.  Ist die Zeit einsinnig, nicht umkehrbar, so ist es unsittlich, zweimal dasselbe zu sagen oder den Hinweg zum Rückweg zu machen, weil ich damit den neuen Augenblick belüge, mich identisch setze mit einem früheren, nicht frei handle, sondern mich durch empirische Kausalität determinieren lasse.  Unsittlich ist es auch, die Vergangenheit ändern zu wollen.  In der Reue wird vergangene Schuld als vergangene bejaht, als zukünftige verneint.  Die Lüge belügt das Vergangene und versucht die Zeit umzukehren; das Böse ist Umkehrung.  Der Mensch ist ein wollendes Wesen, und „das Ich als Wille ist die Zeit“.  Wenn er auf die Nicht-Umkehrbarkeit des Daseins in der einsinnigen Zeit verweist, die keinen Rückweg vom Tode zur Geburt zuläßt, wenn er sagt, daß die Umkehrung der Zeit das Radikal-Böse ist, die Furcht vor dieser Umkehrung die Furcht vor dem Bösen, so wird daran und an allem weiteren, das er beibringt, deutlich, daß Forderungen gestellt werden, die den Willen betreffen und auf das Handeln abzielen, nicht nur auf das Handeln anderer, sondern auf sein eigenes.  Diese Forderungen werden nicht ohne Angst gestellt, und Weininger war ein Mensch der Angst, der einen Richter hatte, dem er Gehorsam schuldete.  Zeit und Zeitlichkeit haben für ihn eine engere Beziehung zur Ethik als der Raum, in dem er eine Projektion des Ich sieht, die aus dem Reich der Freiheit ins Reich der Notwendigkeit führt.  Sein Begriff der Zeit schließt ein, daß er die Wiederkehr in der Zeit ablehnt.  Wiederkehr, wie sie die Inder und Pythagoreer verkünden, die Lehre von einer ewigen Wiederkehr, wie sie Nietzsche formulierte, weist er als fürchterlich zurück.  Durch solche Lehren wird ihm der Mensch zum Doppelgänger, der sukzessiv wiederkehrt, und die Unheimlichkeit des Doppelgängers macht ihm Angst.  Kann er sich mit solchen Gedanken der Wiederkehr entziehen, die sich in Periodizität, Rhythmus und Symmetrie zeigt, in Tag und Nacht, den Jahreszeiten und allem Leben der Natur, und auch in Gedächtnis und Erinnerung?  Er muß zugestehen, daß der Mensch Gesetzen der Periodizität folgt, aber er beruhigt sich damit, daß der gleiche Zustand nie ganz wiederkehre.

    Logischer Ansatz seines Denkens ist der Identitätssatz, der sich an ein freies Wesen wendet und verlangt, daß er von ihm zur Maxime des Denkens gemacht wird.  Ethischer Ansatz ist das Schuldproblem.  Ohne Logik keine Ethik.  Alle Logik ethisches Gesetz, alle Ethik gefordert von logischen Gesetzen.  Sie werden eins, vereinigen sich in der Wahrheit.  Die Beweisführung stützt sich auf kantische Philosophie, aber das Transzendentale verlagert sich in die Transzendenz.

    Die Stelle, an der die Einheit von Logik und Ethik offenbar wird, liegt für Weininger in der Zeit und zeigt sich in der Beziehung des Identitätssatzes zur Zeit, deren Gegensatz er ist, zeigt sich im Urteil.  Das Urteil steht nicht in logischer, sondern in psychologischer Beziehung zur Zeit, deren Negation es ist; es ist der psychologische Ausdruck des logischen Satzes der Identität, gründet im principium identitatis, contradictionis und exclusi tertii.

    Diese Beweisführung setzt die Unveränderlichkeit des Subjekts voraus, ohne welche Veränderungen als solche nicht erkannt werden können.  Reine Logik verbürgt die Existenz des Ich; in ihrer Normativität liegt schon der Beweis, daß das Denken des Menschen frei ist.  Das Denken der Kausalität verbürgt schon die Freiheit.  Er folgt Kant auch darin, daß er die mechanischen Theorien der Assoziation ablehnt und sie als abhängig von der Apperzeption begreift.  Wie immer diese gedacht ist, ohne Gedächtnis ist sie nicht zu denken.  Das Gedächtnis ist das „Zentrum“ der Apperzeption, ein logisches Kontinuum, dessen Zerfall auch den Identitätssatz zerfallen läßt.   Daß er darin richtig sieht, kann nur der bestreiten, der neben dem Gedächtnis ein zweites Kontinuum aufzuweisen vermag.  Mit dem Verfall des Gedächtnisses setzt der logische und ethische Verfall des Menschen ein.  Nicht nur ist für Weininger jeder Irrtum, der ja das Vergessen, Verwechseln und die Selbsttäuschung einschließt, eine Schuld.  Das Vergessen ist an sich unmoralisch; es besteht eine Pflicht, nichts zu vergessen.  Die wissentliche wie die unwissentliche Lüge sind ein Leugnen des Kontinuums und seines Wahrheitsanspruchs.  Lüge ist eine Verleugnung des Selbst, ist ein Vergehen gegen das Zentrum der Apperzeption, das nichts anderes als die Persönlichkeit ist, Gedächtnis ist.

    Dieses alles zielt auf das Schuldproblem hin, das tiefste, erregendste Problem, das Weininger beschäftigte.  Wenn er das Subjekt unveränderlich nennt, so heißt das nicht nur, daß der Charakter konstant ist, es heißt auch, daß die großen Themen stets dieselben sind.  Daher kann alle empirische Geschichte nicht das letzte Wort sein, kann das innerste Bedürfnis des Menschen nicht befriedigen.  Wenn er sagt, daß das, was den Menschen zutiefst bewegt, nur das reine Bedürfnis sei, „der Gesamtheit der zeitlichen Ereignisse einen realen Sinn außerhalb der Zeit unterlegen zu können“, daß es keine „geschehene, sondern nur gewollte Geschichte“ gebe, so liegt darin nicht nur die Unterscheidung von Historie und Geschichte.  Die Zeit als solche hat keinen eigenen Sinn.  Der Sinn des Seienden liegt nicht in ihm selbst, sondern ist außerzeitlich, ist seine Transzendenz.  Wenn er sagt: „Jedes wahre, ewige Problem aber ist eine ebenso wahre, ewige Schuld, jede Antwort eine Sühnung, jede Erkenntnis eine Besserung“, zeigt sich das Transzendente seiner Analyse und Kritik.

    Ist das Gedächtnis das Zentrum der Apperzeption, so liegt darin, daß es ohne Gedächtnis weder Subjekt, Ich, Persönlichkeit noch Selbstbewußtsein gibt.  Ohne Gedächtnis gibt es keine Apperzeption mehr, da diese Gedächtnis und Erinnerung voraussetzt.  Ohne Gedächtnis gibt es keine Identität, daher auch kein Unterscheiden des Nichtidentischen.  Ein Mensch, der sein Gedächtnis verliert, erkennt und unterscheidet, nach Grad und Maß des Verlustes, nichts mehr.  Erkenntnis ist ein Wiedererkennen, das Identität voraussetzt.  Unterscheiden ist das Wiedererkennen des Unterschieds innerhalb der Identität.

    Ist aber, um damit zu beginnen, die Folge unserer Wahrnehmungen eine logische Folge?  Folgen Gedächtnis und Erinnerung logischen Gesetzen?  Ist aller Logos identisch mit den logischen Strukturen des Denkens?  Und liegt nicht ein tiefer, verhängnisvoller Widerspruch im Denken Weiningers, wenn er das Gedächtnis als Zentrum der Apperzeption anerkennt, aber die Wiederkehr verneint?  Das Gedächtnis ist Wiederkehr.   Die Identität, die ohne Gedächtnis nicht erkannt wird, ist Wiederkehr.  Ein Kontinuum ist ohne Gedächtnis nicht wahrnehmbar.  Sätze wie: „Ich bin“ oder „Ich denke“, verlieren ohne Kontinuum jeden Sinn und Zusammenhang.  Wenn dem so ist, wenn Logos und Ethos ohne Gedächtnis verfallen, woran nicht zu zweifeln ist, trifft dann Weiningers Behauptung zu, daß jedes Vergessen unsittlich ist?  Ich habe doch ein Gedächtnis nur, weil ich vergessen kann. Ich verwahre Gedachtes in der Vergessenheit und rufe es aus ihr zurück.  Ich bleibe bei Gedachtem nicht stehen, weil sonst meine Bewegung endet. Und ich bringe meine Wahrnehmungen in die dauernde Verwahrung der Vergessenheit, weil sie mir nichts mehr zu sagen haben, weil die absterbende, tote Bewegung fortgeräumt werden muß.  Die unendliche Mannigfaltigkeit vergangener identischer Wahrnehmungen und Bewegungen soll nicht immer wieder zurückgerufen werden.  Eben das ist es, was die Wiederkehr leistet, wenn sie die einzelnen Wiederkehren auslöscht, ununterscheidbar macht und in ihrer ununterscheidbaren Indifferenz im Gedächtnis streicht.  So sichert sie, indem sie die Einzelheit wesenlos macht, die Allgemeinheit unseres Wahrnehmens und Denkens.

    Die Unlust an der Wiederkehr, die Wahrnehmung, daß ihr Vollzug Mühe macht, schwerfällt, als Last empfunden wird, hat unmittelbare Folgen für das Handeln.  Daß die Wiederkehr bewußtlos vollzogen wird, daß sie im Denken und Handeln nicht eigens mitbedacht wird, das „Ich denke“ und „Ich bin“ nicht ausdrücklich begleitet, daß also ihre Automatik sich dem Bewußtsein nicht aufdrängt, ist die Voraussetzung der ungestörten Bewegung.  Wiederum: daß die Wiederkehr im Dasein eigens bedacht und bejaht wird, ist die Voraussetzung jedes Festes; die Wiederkehr des Festes ist das Fest der Wiederkehr.  Periodizität, Rhythmus, Takt, Tanz, Ring und Kreis, die zum Fest gehören, sind keine logischen Strukturen.  Weininger war ein unfestlicher Mensch.  Wenn er den Tanz der Geschlechter als unsittlich ablehnt, ihre rhythmische Bewegung, insbesondere den Walzer, wenn er Städte wie Wien und München ablehnt, so richtet sich das alles gegen die Wiederkehr.  So wie das, was er gegen Planetenumläufe und Kreisläufe einwendet.  Der Kyklos ist mit der einsinnigen Zeit unvereinbar.

    Wenn das Denken die Wiederkehr ablehnt, wird ihr Vollzug gestört.  Wenn es sie radikal verneint, wird das Leben, das auf ihr beruht, unerträglich.  Dort, wo jede Wiederkehr verneint wird, ist der Selbstmord unabwendbar.  Daß nichts wiederkehren soll, ist der Wunsch dessen, der Hand an sich legt.

    Erwähnt wurde, daß es Weiningers Absicht war, eine universale Symbolik zu entwickeln, „weil es ihm nicht auf das Ganze, sondern auf die Bedeutung alles einzelnen im ganzen“ ankomme.  Er will nicht symbolisieren, sondern Symbole aufzeigen.  Dazu ist zunächst zu sagen, daß das Symbolische stellvertretend ist für ein anderes, daß es verweisend ist und be-deutet.  Es steht für etwas anderes, hier die Idee.  Ist auch die Idee symbolisch, ein Zeichen für etwas anderes?  Nein, sie ist das real, wirklich, wahrhaft Seiende, also wohl das Bedeutungslose, Bedeutungsleere, das allem anderen Bedeutung gibt.  Das wahrhaft Seiende kann nicht wiederum Symbol sein; es ist, was es ist.  Wenn es ist, was es ist, erhebt sich die Frage, ob die Ideen sich bewegen.  Aber Bewegung enthält Beziehung, Bedeutung, Negation.  Universalia non movent.

    Er will zeigen, „was das Eisen, was die Ameise, was der Chinese bedeuten“, will „die Idee, die sie repräsentieren“, aufdecken, und er betrachtet dieses Unternehmen als das erste seiner Art.  Es soll die ganze Welt umspannen, soll den tieferen Sinn der Dinge bloßlegen, sie im eigentlichen Sinn auslegen und erklären.  Die Voraussetzung dieses Unternehmens ist seine Theorie vom Menschen als Mikrokosmos.  Der Mensch hat zu allen Dingen der Welt ein Verhältnis, daher müssen alle Dinge schon in ihm vorhanden sein.  Ist das System der Dinge „identisch mit dem System des Systems des Menschen“, dann entspricht jeder Daseinsform im Menschen, jeder Möglichkeit im Menschen etwas in der Natur.  „So wird die Natur, alles Sinnliche und Sinnenfällige in der Natur, gedeutet durch die psychologischen Kategorien im Menschen und nur als Symbol für diese betrachtet.“ Deuten ist für ihn das Aufdecken von Natursymbolen.  Er setzt Entsprechung (Korrespondenz) und Symbol gleich.

    Ist dieses Unternehmen das erste in seiner Art?  Das, was ihn beschäftigt, ist eine Signaturenlehre.  Eine solche Signaturenlehre liegt in der boehmischen Philosophie, in der gesagt wird, daß alle Dinge ihre innere Signatur auch äußerlich offenbaren, daß die Signatur das Innere und das Äußere bezeichnet, daß der Leib aller Dinge des Geistes Signatur ist, und daß jedes Menschen tierische Eigenschaft auch äußerlich eine Signatur hat.  Eine Signaturenlehre hat die paracelsische Medizin, welche lehrt, daß jeder Naturkörper Zeichen an sich hat, welche zeigen, ob er gegen Leiden zu gebrauchen oder nicht zu gebrauchen ist.

    Solche Signaturenlehren sind physiognomisch gedacht, gehen aber über die Physiognomik hinaus, die sich darauf beschränkt, aus den Körperteilen, vor allem dem Gesicht, der Physiognomie, die seelischen Eigenschaften des Menschen abzulesen.  Aristoteles wird eine verloren gegangene Abhandlung über Physiognomik zugeschrieben.  Die „Humana Physiognomia“ des Baptista Porta gründet sich auf den Vergleich menschlicher und tierischer Gesichtszüge und Gesichtsbildungen und behauptet, daß sich aus der Ähnlichkeit des Menschengesichts mit Raubvögeln, Löwen, Füchsen, Wölfen und anderen Tieren auf den Charakter des Menschen schließen lasse.  Lavaters Physiognomik und Galls Schädellehre zielen in die gleiche Richtung.  Carus hat ein Buch über Symbolik der menschlichen Gestalt geschrieben, und von Darwin gibt es ein Buch über den Ausdruck der Gemütsbewegung bei Menschen und Tieren.

    Wodurch unterscheidet sich die Symbolik Weiningers von den Signaturenlehren seiner Vorgänger?  Er sagt, daß ihn zuerst die Tiefseefauna zum Nachdenken brachte und den Wunsch in ihm weckte, in Neapel zu studieren.  Dort liegt die von Dohrn gegründete zoologische Station mit ihren Arbeitsplätzen.  Das Interesse für die Meeresfauna war damals stark.  Die Wahrnehmung, daß auch die Tiefen des Meeres von Leben erfüllt sind, trug dazu ebenso bei wie der seltsame Bau der mit Leuchtorganen ausgerüsteten Tiere, die dem ungeheuren Wasserdruck standhalten.  Nicht Zoologie aber war es, die Weininger primär beschäftigte.  Ihm kam der Gedanke, daß die Tiefsee in einer Beziehung zum Verbrechen stehen müsse, weil sie keinen Anteil am Licht habe, „dem größten Symbol des höchsten Lebens“, daß also alles, was sich diesen dunklen Aufenthalt wähle, lichtscheu und verbrecherisch sei.  Polypen konnten nur als Symbole des Bösen betrachtet werden.  In ihm entstand der Plan zu einer Tierpsychologie, zu der er sich Aufzeichnungen machte, die bei der Kürze seines Lebens Skizzierungen blieben.  Es war vor allem der Hund, der ihn beschäftigte, die Bedeutung des Hundes.  Der Hund, sagt er, ist „das Symbol eines Verbrechers“.  Diese Formulierung ist nicht deutlich, doch wird an den Belegen, die er über das Verhalten des Hundes bringt, deutlich, daß er nach Entsprechungen zwischen Hund und Verbrecher suchte.  Seine Symbolik schließt eine Verhaltenslehre ein.  So wie der Hund dem Verbrecher entspricht, so der Verbrecher dem Hund.  So entsprechen (ähneln und gleichen) die Tiergesichter des Menschen den Tieren, ähneln und gleichen im Verhalten der Schlange, dem Schwein, Affen, Esel, Ochsen und anderen Tieren, so repräsentiert das Pferd den Irrsinn.  Seine Signaturenlehre erstreckt sich auch auf die präorganische Natur, auf Licht, Feuer, Rauch, Farben, Regen, Quell, Geländeformen, Gravitation, kurzum auf alles.

    Der psychologische Ansatz ist unverkennbar.  Wiederholt sei, daß für Weininger die psychischen Phänomene keine Erscheinungen im Sinne Kants waren.  Er entwirft eine ethische Signaturenlehre; das Ethos des Symbols wird gewertet.  Die Physis ist Symbol der Psyche.  Auch die Mathematik wird auf ihr Ethos hin untersucht, Zahlen und geometrische Figuren.  Daß er der Drei und Dreizahl einen Vorzug gibt, den Kreis und die Ellipse als unvollkommene Figuren betrachtet, ist schon in seiner Auffassung von der einsinnigen Zeit begründet.  Dem Kreis und der Ellipse wirft er Rückläufigkeit vor, die sich wiederholt, einen Mangel an Ethos, den er in jeder Wiederholung erkennt, in der Planetenbewegung, dem Tanz, dem Ring und Ringelspiel, jeder kreisförmigen und elliptischen Bewegung.  Der Tanz ist für ihn die Bewegung der Prostitution, der Hochzeitsring ein unmoralisches Symbol, das zwei Menschen die Freiheit nimmt und sie in den Zustand der Knechtschaft bringt.  Im Sonnensystem liegt wegen seiner kreisförmigen Bewegungen so wenig Sittliches wie im Mond, und der Saturn mit seinen Ringen und Monden erscheint ihm als die Summation des Bösen.  Vom Kyklos will er nichts wissen.

    Hier sei an einen Ausspruch Hegels erinnert, der in den „Vorlesungen über die Aesthetik“ steht.  „Das Subjekt“, sagt er, „ist das Bedeutende für sich selbst, und das sich selbst Erklärende.“ Und in seiner „Geschichte der Philosophie“ sagt er, daß der Geist, weil er die Sprache hat, keiner Symbole in Zahlen, Linien und geometrischen Figuren bedarf.  Dergleichen Symbole sind „tief, wie man einen Brunnen tief nennt, dessen Boden man nicht sehen kann.“ In Hegels Denken, das in der Vermittlung gründet, ist nichts, was Weininger anziehen konnte; ihm fehlt alles Vermittelnde, und auch das Mittlere, von dem er keine Hilfe erwartete.

    Indem das Denken Weiningers mehr und mehr, zuletzt ausschließlich um die Fragen von Schuld und Verschuldung sich müht, das Dasein für ihn selbst Schuld ist, sucht seine Symbolik diese Schuld aufzudecken.   In seiner Symbolik deckt sich die Schuld, die alles einzeln Seiende hat, mit seiner Bedeutung im Ganzen.  Es zeigt nicht nur, was es ist, sein Wassein (quidditas, essentia), sondern wird in diesem Zeigen zum Zeichen für ein anderes.  Es wird in die Uneigentlichkeit der Bedeutung versetzt, damit seine Eigentlichkeit als Verschuldung im ganzen sichtbar werde.

    Die Frage, was alles einzelne im ganzen ethisch bedeutet, rührt an die andere, weshalb, warum, wozu es da ist.  Die Frage, wozu die Pferdebremse da ist, ist keine wissenschaftliche, allenfalls eine theologische Frage, und Weininger verneint, daß sie, der Floh, die Wanze, das Stinktier, der Schwefel von Gott geschaffen worden sind.  Sie sind Symbole für etwas, das sich von Gott abgekehrt hat.

    Ethos und Logos lassen sich nicht trennen, deshalb wird der Ethiker die logischen Strukturen des Denkens achten, wird sie nicht preisgeben.  Wer wissen will, was wahr und unwahr, richtig und falsch ist, der kommt um die Logik nicht herum.  Ist dem so, wovon Weininger ausgeht, so wird in den logischen Strukturen nicht schon der Grund der Wahrheit liegen.  Wahrheit und Richtigkeit sind nicht dasselbe.  Die Übertragung der richtigen Satzstruktur auf das Denken und ihre begriffliche Analyse sagt über Wahrheit und Wahrhaftigkeit eines Satzes nichts aus.  Der logisch richtige Satz kann unwahr, der unrichtige wahr sein.  Mit logischen Mitteln kann Spiegelfechterei betrieben werden, kann ein sophistischer Schein erzeugt werden.  Logische und dialogische, dialektische Kunstgriffe sind lehrbar, sind praktische Anweisungen für das Wortgefecht, in dem der Gewandte den Ungewandten niederzwingt.

    Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Aussage sind an die Person gebunden, ohne sie nicht vorhanden, sind in der grammatischen und logischen Aussage nicht schon zu finden.  Der Satz verlangt Wahrheit, die nicht schielt, die ohne kluge Rücksicht ausgesprochen wird.  Es genügt nicht, daß er klug ist, klug, wie es der Sophist ist, bei dem das Wissen Mittel zum Zweck wird.  Wahrheit ist kein Zweckgefüge, kein kausaler Ablauf.  Weininger ist nicht klug; bei ihm geht es um Leben oder Tod.  Er setzt, wertend und abwertend, seinen Willen in den höchsten Wert.  Sein Denken kann den Anschein einer Wertphilosophie wecken.  Welches aber ist der höchste Wert?  Ist Gott der höchste Wert?  Wer das behauptet, bezieht ihn in die Skala menschlicher Wertungen ein und wertet ihn selbst.  Darin liegt Vermessenheit.  Ist die Vergöttlichung des Menschen der höchste Wert?  Sie ist es, die Weininger fordert, und diese Vergöttlichung ist bei ihm identisch mit der Tilgung der Schuld.  Er war ein Mensch, der sich schuldig fühlte, schuldig nicht wegen einer singulären Verfehlung, sondern durch sein Dasein.

    Die Radikalisierung der Ethik hat ihren Ansatz in der Überzeugung, daß das Dasein selbst Schuld ist, die Grundschuld alles Verschuldens.  Ist dem so, so ist auch alles Leiden, das es mit sich führt, selbstverschuldet.  Ich bin dafür verantwortlich, kann es nicht abwälzen auf andere, muß es mir zurechnen.  Auch das Leiden, das andere mir zufügen, hat seine Voraussetzungen in meinem Dasein und wäre nicht, wenn ich nicht wäre.  Sie sind nicht entschuldigt, wenn sie mir Leid zufügen, aber ihre Schuld hebt meine nicht auf.  Durch mein Dasein ist mein Sosein gesetzt, ist alles Beschaffene, alle Bewegung gesetzt.

    Eine solche Überzeugung und Gewißheit wird, wo immer sie auftaucht, umwälzende Bewegungen im Denken und Handeln hervorrufen.  Unvermeidlich ist, daß aus ihr asketische Forderungen abgeleitet werden, die den verständigen Menschen ängstigen oder ihm wegen ihrer Härte unsinnig erscheinen.  Solche Forderungen werden sich nicht mehr auf Sühnung und Verrechnung von Schuld beschränken, sondern die Axt an das Dasein selbst anlegen.  Das Zeugen und Gebären soll aufhören.  Unter den Juden hatte es Essener gegeben, eine Minderheit, welche die Ehelosigkeit als höhere Stufe der Vollkommenheit ansah und den Nachwuchs ihrer Sekte durch Adoption sicherte.  Im Judenchristentum und Christentum haben sie ihre Nachfolger, in den Eremiten Syriens und der Thebais, in den nach Geschlechtern getrennten Klöstern.  Doch ist der Asket nicht an Judentum und Christentum gebunden; er wird und muß sich überall zeigen, wo das Dasein als Schuld begriffen wird.  Er übt nicht nur Enthaltsamkeit, wie Gesetz und Maß sie fordern; er hebt Gesetz und Maß des Daseins mit diesem auf, um der Daseinsschuld ein Ende zu setzen.  Deshalb enthält er sich der geschlechtlichen Beziehung, enthält sich, weil sie zu neuem Dasein und damit zu neuer Schuld führt.

    Hat der Mensch nicht nur sein Tun, sondern auch sein Dasein zu verantworten, so ist schon die Geburt seine Schuld.  Die Geburt gilt Weininger als Feigheit, als „Verknüpfung mit anderen Menschen, weil man nicht den Mut zu sich selbst hat.  Darum sucht man Schutz in Mutterleibe.  Für meine Geburt, meine Krankheiten, meinen Irrsinn, meine Unfälle habe ich einzustehen, und auch noch für meine Zufälle, da sie mir und keinem anderen zufallen.“ Daß es so ist, wie Weininger sagt, zeigt schon die Erfahrung.  Bin ich ein zufälliger Mensch, ein beliebiges, hohles empirisches Ich, so werden sich auch meine Zufälle mehren.  Auf die Kausalität und Finalität des Geschehens läßt sich nichts abschieben; sie setzt erst ein, wenn ich da bin, und rührt nicht an den Kern.  Die Wahrnehmung der Determination, sagt Weininger, zeigt schon, wer der Herr ist; ich würde nichts wahrnehmen, wenn ich nicht frei wäre.  Einsicht in die Gesetzmäßigkeit ist schon Freiheit von ihr.  Wenn jemand fragt: Wie konnte gerade mir das zustoßen?, liegt darin schon die Ausflucht; die Ausflucht aber lügt, schränkt die Zurechnung eine, wälzt sie ab, schiebt sie einem anderen zu, sei es Gott oder Mensch.  Nur ihm, keinem anderen konnte es zustoßen.  Wenn die falsche Humanität am Fundament rüttelt, wenn sie die ontologische Zurechnung streicht, handelt sie verbrecherisch.  Wenn der Psychologe den Menschen entschuldigt und den Mechanismus des Geschehens verantwortlich macht, handelt er verbrecherisch.  Ich bin es, der den Mechanismus in Gang setzt; ohne mich dreht sich kein Rad.  Wenn das leere, entleerte, substanzlos gewordene Subjekt sich auflehnt, nicht nur gegen Gott und die Welt, sondern auch gegen den Zufall, so übersieht es, daß es selbst zufällig geworden ist und daß sein Protest nichtig ist.

    Weininger zieht einen scharfen Trennungsstrich zwischen Eros und Sexus; er sagt, daß es nur platonische Liebe gibt.  An dem Verhältnis des Eros zum Schönen zeigt sich, daß die Schönheit von der Liebe geschaffen wird, daß sie eine Projektion und Emanation des Liebesbedürfnisses ist.  Das ist platonisch gedacht, schließt auch den Mangel ein, der jedem Bedürfnis anhaftet.  Die Liebe ist seelenhaft, und da der Mann – nach der Überzeugung Weiningers – beim außerzeitlichen Akt der Menschwerdung das Göttliche der Seele allein für sich behalten hat, das Weib keine Seele hat, kann nur er lieben.  Dieses Behalten ist sein Unrecht, und er büßt dafür durch das Leiden der Liebe.  Er hat einen Raub begangen, fühlt sich schuldig und büßt sein Unrecht gegen die Frau mit dem Leiden der Liebe; sucht der Frau die ihr geraubte Seele zurückzugeben, will sie ihr schenken.  Doch das gelingt nicht.

    Hier sind die Kapitel zu bedenken, in denen Weininger zunächst das Weib, dann das Judentum, dem er selbst angehört, angreift.  Darauf, daß das Weib kein Zentrum der Apperzeption hat, also kein Ich, keine Seele, keine Persönlichkeit und kein Gedächtnis, stützt sich die Polemik, die er in „Geschlecht und Charakter“ ausführt.  Sie ist nicht die erste ihrer Art; die Materialien, die für sie bereitliegen, sind unerschöpflich.  Die Differenz der Geschlechter ist unaufhebbar, der Zwang, der in ihr liegt, mächtig und siegreich, der Konflikt unvermeidlich, das Leiden groß.  Trieb und Neigung sind elementar, ein Naturgesetz, das die Zeugung mit Lust verkoppelt und dadurch erzwingt.  Daß Geschlecht und Charakter untrennbar sind, sich nicht isolieren lassen, ist der Nachweis, den Weininger führt.   Er untersucht die mechanische Seite des Triebes, den Sexus, der sich in der Funktion erschöpft. Er stellt Gesetze der sexuellen Anziehung auf und bringt mathematische Formeln für die vis attractiva der Geschlechter.  Sie besagen, daß Mann (M) und Weib (W) sich ergänzen und komplettieren, daß ein männlicher Mann eine weibliche Frau sucht, ein weiblicher eine männliche.  Die Erfahrung zeigt, daß dem so ist.  Doch zeigt sie auch, daß die Formel nicht hinreicht, daß die Ergänzung mißlingt.  Der kantische Satz: „Erst Mann und Weib machen den Menschen aus“, den Weininger als Motto über eines seiner Kapitel setzt, drückt diese Erfahrung auf andere Weise aus.  Wie dieser Mensch beschaffen ist, liegt in einem anderen Felde.

    Das Weib ist, wie der Prediger sagt (7, 29), seelenlos.  „Unter Tausenden habe ich einen Menschen gefunden, aber kein Weib habe ich unter allen gefunden.“ Ein Mann kann zum Weibe werden, nicht aber ein Weib zum Mann.  Hier sei an zwei Verse erinnert, die Weininger nicht zitiert, die sich in Grillparzers „Jüdin von Toledo“ finden.

 

            Das edle Weib ist halb ein Mann, ja ganz,
            Erst ihre Fehler machen sie zu Weibern.

 

    Nahe liegt, daß Weininger die naturhaften, blutmäßigen Bindungen geringschätzt.  Mutterschaft und Familie verbergen neues Dasein.  Die Mutter ist für ihn das Rhizom der unsterblichen Gattung, während die Dirne, die femme stérile, den Gattungszweck verneint.  Die Mutterliebe nennt er unsittlich, weil ihr die Tatsache der Kindschaft genügt, nicht aber die Individualität des Kindes.  Sie hat nichts Intelligibles, sondern ist instinktiv und triebhaft.  Die Dirne (Kokotte, Hetäre) geht nicht in der Gattung auf, sondern lebt ihr eigenes Leben.  Feig, frech und machthungrig sucht die Prostituierte den Mann, der ihrem Zauber verfällt.  Ihr ist der Volkstribun verwandt; in jedem Tribunen steckt ein Element der Prostitution.

    Als Rhizom der Gattung, als Wesen, dem am Fortbestand der Gattung gelegen ist, treibt das Weib Kuppelei.   Sie ist die Gesandte und Mandatarin des Koitusgedankens.  Als Hysterica, Xanthippe, Megäre, Simulantin, Lügnerin, Hypnotisierbare ist sie vom transzendenten Sein ausgeschlossen.  „Der Mann ist Form, das Weib Materie.“ Der Mann ist Subjekt, das Weib Objekt.  Es ist das Symbol des Nichts, und als solches die Ergänzung und Bedingung des Mannes.  Da der Mann das Weib schafft, solange er sexuell ist, ist das Weib die Schuld des Mannes.

    Es ist offenbar, daß Weininger das Weib tief herabsetzt, daß er seine intellektuelle Kraft, seinen physiognomischen Blick und Scharfsinn auf dieses Herabsetzen verwendet.  Tut er es des Herabsetzens wegen?  Es ist Leiden, nicht Genugtuung in seinen Ausführungen, nicht Haß, sondern Trauer.  Er sagt selbst in „Geschlecht und Charakter“: „Was ich hier gefunden habe, wird keinen anderen so schmerzen wie mich.“ Und: „Das Buch bedeutet ein Todesurteil; entweder trifft es das Buch oder dessen Verfasser.“

    Was Weininger, Sohn einer Wiener jüdischen Familie, gegen das Judentum vorbringt, was er ihm wie dem Weibe vorwirft, ist sein Mangel an Transzendenz.  Es betrifft, wie er selbst bemerkt, nicht den einzelnen Juden, sondern die Idee des Judentums.  Doch versteht sich, daß der einzelne Jude in dem Grade mitbetroffen ist, in dem er Anteil an dieser Idee hat, die als platonische Idee bezeichnet wird, obwohl sie selbst jeder Transzendenz ermangelt. „Die metaphysische Schuld des Judentums ist Lächeln über Gott.“ Das ist der Kern seiner Anklage.  „Der Dumme lächelt verschmitzt über die Frage, der Jude über die Schuld.  Beide nehmen nichts ernst.“ Er wirft dem Juden vor, daß er sich mit keiner Schuld, also auch mit keinem Problem belade.  Seine Schuld sei, daß er die Zeit nicht setze.  Das zielt auf seine Geschichtslosigkeit, auf sein geschichtsloses, in sich abgekapseltes Leben inmitten anderer Völker.  Er will weder den Endzweck noch den Weltprozeß, will weder Gut noch Böse.  „Er widersetzt sich dem Willen Gottes, der auch das Böse will.“ Wie aber kann Gott das Böse wollen?  Wie ist dieser Satz Weiningers zu verstehen?  Gott läßt das Böse zu, weil sonst jede Entscheidung unmöglich wird, weil Wahl und Freiheit unmöglich werden.  Er will das Böse nicht an sich, sondern im Zusammenhang und Konflikt mit dem Guten.

    In der Bitte des Vaterunsers: „Und führe uns nicht in Versuchung“, ist ausgesprochen, daß Gott ein Versucher ist.  Wäre er es nicht, könnte der Mensch nicht mehr als eine Maschine sein, die mechanisch funktioniert.

    Weininger litt unter seinem Judentum.  Der Jude leidet, nicht nur durch die Schuld anderer, sondern durch seine Isolierung im Weltprozeß und das starre Festhalten an ihr.  Gegen die Passivität dieses Leidens lehnt sich Weininger auf; das Leiden selbst bleibt ihm nicht erspart.  Nach außen vollzieht er die Trennung durch seinen Übertritt zum Christentum.  Er wird Protestant, und er konnte nur Protestant werden, nicht allein deshalb, weil seine Lehrer Protestanten waren, sondern wegen seines Schuldbegriffes, in dem keine Katholizität war.  Das peccatum originale gehört bei ihm nicht nur zur Substanz des Menschen; es ist die vor aller Menschwerdung begründete Daseinsschuld.

    Ist das Judentum seiner Idee nach Schuld, ist der Glaube an Jehova und die Lehre Mosis „die personifizierte Idee des Judentums“, wird es als ideelle Einheit behandelt, dann werden Unterschiede nicht gemacht.  Die Idee des Judentums umfaßt orthodoxe, liberale und zionistische Juden.  Sie trifft den gesetzestreuen Juden, den Assimilanten und den Israeli.  Hätte Weininger die Gründung des Staates Israel erlebt, so hätte er sie als einen Rückfall ins Judentum mißbilligt.  Zionismus ist für ihn nichts anderes als die Überwindung des Judentums durch den Juden.

    Ist das Judentum keine Rasse, kein Volk, sondern eine platonische Idee, ist es eine Geistesrichtung, eine psychische Konstitution, so liegt darin, daß es nicht nur für Juden, sondern für alle Menschen eine Möglichkeit bildet.  Diese Möglichkeit zeigt der Antisemitismus.  Weininger gebraucht dieses Wort, obwohl es falsche Vorstellungen erweckt.  Es ist nicht das Semitische, das zur Ablehnung des Juden führt, sonst müßte diese Abneigung auch den Assyrern, Babyloniern, Phöniziern, Karthagern, Aramäern gegolten haben und heute den Arabern gelten.  Die Araber, die nicht erst seit Mohammed judenfeindlich sind, lehnen Wort und Begriff des Antisemitismus ab.  Es gibt einen Antijudaismus, keinen Antisemitismus.

    Die schärfsten Gegner des Judentums, sagt Weininger, sind Juden.  Weder der Jude, der ganz im Judentum aufgeht, noch der Arier, der nichts Jüdisches in sich hat, kann den Juden hassen.  Die Wurzel alles Hasses ist Selbsthaß; ich muß das, was ich hasse, in mir haben, muß es zunächst in mir hassen, Anteil haben an der platonischen Idee des Judentums.  Er wirft dem Judentum Glaubenslosigkeit vor, und er fügt hinzu, daß der Jude das „Stiefkind Gottes“ auf Erden ist, daß es keinen männlichen Juden gebe, der nicht dumpf und tief an seinem Unglauben litte.

    Ziel und Zweck auch dieser Polemik ist nicht das abwertende Urteil, nicht der Haß.  Weininger war kein Antisemit im gehässigen Sinne dieses Wortes.  Vom rohen, vulgären Weiber- und Judenhaß war er weit entfernt.  Er war kein Täter, kein gewalttätiger Mensch, ja einer verletzenden Handlung – sich selbst ausgenommen – so wenig fähig, daß er bei der Absendung einer Papyrus-Pflanze anmerkt, daß er sie nicht abgerissen habe, sondern abgerissen gefunden habe.  Das Massive seiner Angriffe entspricht dem Zugriff, dem er sich ausgesetzt fühlt.  Seine Polemik ist ein Akt der Selbstverteidigung und Notwehr.  Ohne Angst ist der durchdringende Scharfsinn seiner Kombinationen nicht zu denken, und diese Angst wächst, bis sie Verzweiflung wird.   „Die Optik zerstört das Licht.“ Wahr, sie zerstört auch ihn.  Inmitten der Moderne, deren transzendente Leere er erkennt, ist er der transzendente Mensch, der untergeht.

    Ist jeder schuldig, schuldig schon durch sein Dasein und verantwortlich für dieses Dasein, so kann vermutet werden, daß Schuld etwas Gemeinsames ist, so wie Schicksal und Geschick etwas Gemeinsames sind.   Sie entsteht nicht erst durch die Verletzung sozialer Gerechtigkeit, verschwindet daher nicht durch deren Tilgung, hat ihren Grund überhaupt nicht in der Gerechtigkeit, hat keinen Rechtsgrund.  Ist sie etwas Gemeinsames, so kann sie – das ist die Auffassung Dostojewskis – durch gegenseitiges Bekennen abgestreift und beseitigt werden, kann der Mensch durch dieses brüderliche Verzeihen sich selbst reinigen und rechtfertigen.  Barmherzigkeit und Liebe sind der Weg dazu.  Das Gegenteil einer solchen Schuldtilgung wäre, daß alle sich gegenseitig beschuldigen und anklagen.  Solche Anklagen können auf dem Rechtsweg vorgebracht und geschlichtet werden.  Die Rechtsschuld aber ist nicht die ursprüngliche Schuld.  Recht bleibt mit dem Unrecht unauflöslich verkoppelt, kann sich nicht freimachen von ihm, worauf der Satz summum ius summa iniuria hinweist.

    Kann aber, wenn die Schuld etwas Gemeinsames ist, durch gegenseitiges Bekennen und Verzeihen die Schuld verschwinden?  Gesetzt, das Verzeihen ist aufrichtig, kein selbstquälerisches Sichselbstbeschuldigen und leichtfertiges Verzeihen, so wird doch, nach dem Verzeihen, die Schuld immer wieder von neuem entstehen, wird, wie in den Romanen Dostojewskis, die Menschen immer wieder grausam verstricken.  Ist das Dasein selbst Schuld, so kann durch alles Denken und Handeln, das innerhalb des Daseins liegt, die Schuld nicht aufgehoben werden.  Das Verzeihen reicht nicht hin; auch das liebevolle Verzeihen, das als Akt der Gnade gelten kann, reicht nicht hin.  Auch die Gemeinschaft eines ganzen Volkes wie des russischen, auf das Dostojewski seinen Glauben und seine Hoffnung setzt, vermag das nicht.

    Im Denken Weiningers nimmt sich die Schuldfrage anders aus.  Auch er weiß, daß jede denkbare „Lösung“ der sozialen Frage sie nicht berührt.  Aber ihn beschäftigt nicht, daß Schuld etwas Gemeinsames ist; er weist diesen Gedanken zurück.  Weder verzeiht er sich selbst, noch glaubt er, daß er durch Verzeihung anderer von seiner Schuld befreit werden könnte.  Schuld ist für ihn etwas Singuläres, ist streng an Person und Persönlichkeit gebunden und von ihr nicht zu trennen.  Da der Schritt, der ins Dasein führt, außerhalb aller Zeit und Zeitlichkeit liegt, da ich mich durch diesen Schritt für das Dasein entscheide und meine Schuld eben darin liegt, daß ich meine Freiheit für dieses gesunkene, sinkende, vergängliche Dasein hingebe, kann ich innerhalb des zeitlichen Daseins nie von dieser Schuld freiwerden.  Meine höchste Pflicht ist, sie immer als meine Schuld anzuerkennen und in allem als meine Schuld zu bejahen.  Das allein ist der Weg, der zur Vergöttlichung führen kann.

    Weiningers Denken ist der Protest des Einzelnen gegen das Kollektiv, gegen jedes Kollektiv, das darauf abzielt, den Menschen einzufangen, ihn sich dienstbar zu machen, sich an die Stelle seines Gewissens zu setzen.  Für ihn gibt es kein soziales Gewissen, das sich an die Stelle des Einzelgewissens setzen ließe.  Schuld ist kein soziales Problem, ist wie alle Wahrheit und Wahrhaftigkeit an die Person gebunden.  Die soziale Frage konnte sein Denken nicht befriedigen.  Verbesserungsvorschläge hat er nicht gemacht weil er an Entwicklung nicht glaubte und die großen Themen für ihn stets dieselben blieben.  Er war kein Revolutionär, sondern das Gegenteil eines solchen.  Kultur, für ihn harte Arbeit an sich selbst, war keine soziale Theorie und Praxis.  Daß mit dem Wort Kultur Unfug getrieben wird, daß es zum Deckmantel für organisatorische Umtriebe und Geschwätz wurde, blieb ihm nicht verborgen.  Er hat als erster die Gleichsetzung von Kultur und Zivilisation bestritten und beide durch einen scharfen Schnitt getrennt.  Einem Denken wie dem seinen, dem an der Transzendenz allen Wollens, Wissens und Könnens gelegen war, konnten Positivismus und Pragmatismus nur als Geschäftsstandpunkt erscheinen, die Wissenschaft, die diesen Weg beschritt, als „großindustrielles Etablissement“.  Daß sie ein solches geworden ist, zeigt sich heute deutlicher als zu seiner Zeit.  Nietzsche hatte zuerst ausgesprochen, daß die Wissenschaft zur Demokratie gehört, und Weininger nennt die Wissenschaft „eine Demokratie ohne Präsidenten“, die sich im Detail verliert.

    Sein Anliegen ist nicht Wissenschaft.  Als dissertatio inauguralis zur Erlangung der philosophischen Doktorwürde ist „Geschlecht und Charakter“ zwar gedacht und angenommen worden, ermangelt auch nicht des „Anhangs“ von Zitaten, welche eine wissenschaftliche Arbeit legitimieren, doch bleibt das alles der zeitliche Mantel, der über den Kern der Sache geworfen wird.  Mit der Forderung, daß Logik frei geglaubt, Ethik frei gewollt werden müsse, wendet er sich gegen alle voraussetzungslose, das heißt von Logik und Ethik freie Wissenschaft, gegen das wertfreie Denken und gegen die Gottesbeweise.  Er wendet sich gegen eine Wissenschaft, die den Glauben zu einem Spezialfall des Aberglaubens machen will.  Sind Furcht und Neugier entgegengesetzte Verhaltensweisen, so ist der Wissenschaftler der neugierige Mensch, der Entdecker.   Die Furcht schafft und stärkt die Dämonen, und „die Dämonen sind die Naturgesetze für den leidenden Menschen.“

    Wissenschaft, sagt er, untersucht den Begriff des Wissens weder, noch prüft sie ihn.  Gewiß, denn wenn sie damit beginnt, wenn sie darüber nachdenkt, wozu das Wissen gut ist, hört ihre Arbeit auf.  Wer im Wissen Gewußtes nicht mehr objektiviert, das heißt entpersönlicht, wer an die Stelle der Versachlichung das Subjekt setzt, der wendet sich anderem zu.

    Seine Kritik trifft die Technisierung und Ökonomisierung der Wissenschaft, ihren Machtwillen und Erfindungsgeist, das „Tantum possumus quantum scimus“ Baco von Verulams bis zum machschen Ökonomismus.  Er verwirft die Empfindungslehre Machs, welche die persönlichen Erinnerungen als wertlos bezeichnet, und nennt das machsche Ich einen „bloßen Wartesaal für Empfindungen.“ Er nennt die heutige Gesundheitspflege und Therapie unsittlich.  „Sie entspricht der Tätowierung des Verbrechers.“

    Als Logiker wendet er sich gegen die Begriffsleere, Hohlheit und Marktschreierei der rein empirischen Psychologie.   Sind die Sätze der Identität und des Widerspruchs konstitutiv für die Begrifflichkeit, so sind sie es auch für die Psychologie.  Verliert sie den Charakter der Logizität, der nicht aus der Erfahrung stammt, dann verliert sie mit dem apriorischen Logos auch die absolute Konstanz und Eindeutigkeit der Begriffe. „Der Begriff ist die Norm der Essenz, nicht der Existenz.“ Dieser Satz sagt, daß die Realität der Dinge nicht von ihrer Begrifflichkeit abhängt, daß ihre Qualitäten nur insofern logische sind, als sie begrifflich sind.  Die Norm der Essenz ist Existenz.

    Weiningers kurzes Leben ist, von außen betrachtet, ganz und gar unscheinbar; sagen läßt sich, daß ihm jeder Glanz fehlt.  Kaßner, den er hin und wieder besuchte, sagt von ihm in seinem „Buch der Erinnerung“: „Ich bin in meinem Leben keinem gleich vielseitig begabten Menschen begegnet, der zugleich so wenig das gewesen wäre, was man Persönlichkeit nennt, der so wenig Faszination und Macht ausgeströmt hätte wie er.  Weininger hatte das Aussehen und Gebaren eines tief beunruhigten jungen Mannes aus der Handelswelt, aus dem Comptoir einer Bank, eines nervösen Commis.  Vielleicht hat er sich darum die Kugel durch den Kopf geschossen. Im Sterbehaus Beethovens.“

    Dazu ist zu sagen, daß ein Mensch, der Angst hat, weder faszinieren kann, noch daß Macht von ihm ausgeht.  Wohl aber Unruhe.  Angst, die nicht bewältigt wird, ist schon Verlust der Persönlichkeit, des Ichs und Selbstbewußtseins, an dessen Stelle sich etwas anderes setzt, die Unbehaustheit und Unheimlichkeit des Daseins, das befragt wird, sich selbst befragt und keine Antwort erhält.

    Es fehlt seinem Denken bei aller Tiefe auch der innere Glanz.  Tiefe hat keinen Glanz.  Sein Satz: „Die Optik zerstört das Licht“, weist darauf hin.  Er war ein Mensch, der glauben wollte, der die ganze Kraft seines Intellekts darauf verwendete, aber er war kein Gläubiger.  Seine Forderung, daß der Mensch Gott werden müsse, daß der Glaube an Gott der höchste Glaube an sich selbst sei, daß man im Grunde nur an sich selbst glauben könne, hat ihm nicht geholfen.  Wenn er sagt, daß die Idee der Gnade die tiefste christliche Idee sei, daß es ohne Setzung von Logik und Ethik keine Gnade für den Menschen gebe, daß die Taube des Heiligen Geistes sich auf ihn nicht niederlasse, so gilt für ihn, daß er ein gnadenloser Mensch war, auf den diese Taube sich nie niederließ.  Ihm fehlte nicht nur der Glaube an sich selbst, ihm fehlte auch das Vertrauen, ohne das weder Glaube noch Liebe und Leben möglich sind.

    Sein Wissen schützte ihn nicht.  Vom Intellekt her gibt es keinen Weg zur Gnade.  Gewiß ist, daß er seine Angst nicht besiegt hat, daß die Aufgabe zu schwer wurde und das Leiden ihn überwältigte.   „Der Selbstmord“, schrieb er an seinen Freund Rappaport, „ist kein Zeichen von Mut, sondern von Feigheit, wenn auch unter den Feigheiten die geringste.“ Woran ist das abzumessen? Die Beurteilung eines Menschen, der Hand an sich legt, ist verschieden; die Stoa denkt darüber anders als das Christentum.   Geschieht der Selbstmord vor einem Übel, das größer ist oder scheint als die Erhaltung des Lebens, dann ist er – auch das sagt Weininger – wie alle Furcht mit Unsittlichkeit verbunden.  Damals schon, als er das aufzeichnete, hat ihn der Gedanke bewegt, ob er seinem Leben ein Ende setzen solle.  Schopenhauer hat ein Kapitel über den Selbstmord geschrieben, kommt auch an anderen Stellen seines Hauptwerkes auf ihn zu sprechen, und Weininger hat sie gelesen.  Schopenhauer sieht im Selbstmord einen Akt der Verneinung des Individuums, nicht der Spezies.  Die allgemeinen Gründe gegen den Selbstmord, sagt er, seien Sophismen, wahr aber, daß das Leiden (Kreuz) der eigentliche Zweck des Lebens sei, weshalb er den Selbstmord, der dieses Leiden nicht will, verwirft.

    Nicht alles kann mit dem gleichen Kamm geschoren werden.  Wenn der Selbstmord geschieht, um einem eigenen, unerträglichen Leiden ein Ende zu machen – wobei offen bleibt, ob das Ende wirklich ein Ende ist – so geschieht er auch, um anderen Leiden zu ersparen, und ist dem so, kann sich mit ihm ein Opfer verbinden.  Wenn jemand, um ein Beispiel zu nennen, das rettende Floß verläßt, um anderen darauf das Leben zu retten, Frauen und Kindern etwa, will er nicht sich Leiden ersparen, sondern anderen.

    Indessen war das nicht die Lage, in der sich Weininger befand.  Er erschoß sich in Beethovens Sterbehaus, und dieser Tat gingen Depressionen voraus, die immer schwerer, zuletzt unerträglich wurden.   Depressionen sind eingestandene Niederlagen.  „Das Gefühl für das Chaos wächst,“ schrieb er, „je mehr Kosmos man sein will.  Das Nichts ist der Rand des Etwas; und wird der Mensch alles, wird er Gott, so hat er keine Ränder keine Furcht mehr.  Aber wahrscheinlich hat er kurz vorher die letzte, größte Furcht zu besiegen . . .“

    Diese Furcht hat er nicht besiegt.  Die Frage ist, ob das, was sein Wille erstrebte, Erfüllung finden konnte, ob nicht eben dieser Wille die Erfüllung ausschloß.   In einer Welt zunehmenden leeren Betriebs, transzendenzloser, wissenschaftlicher, technischer, kommerzieller Betriebsamkeit ist sein Ende das eines verlassenen, einsamen Menschen.  Nicht dieser Leerlauf, über den er keinen Zweifel hegte, führte sein Ende herbei.  Er genügte sich selbst nicht mehr, und er hatte Angst zu sinken.  Wenn er versagte, und er griff aus dem Versagen zur Waffe, blieb für ihn nur der Absturz und Abgrund.  Er fürchtete, ins Nichts zu versinken und zum Mörder zu werden.  Muß der Mensch, der sich nicht vergöttlicht, zum Verbrecher werden?  Die Alternative ist die des Alles oder Nichts, jenes Nichts, das der Rand des Etwas ist.  Ein solches Ende weckt Trauer.




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